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Entscheiden unter komplexen Bedingungen – ein Artikel von Anne Caspari

Entscheiden unter komplexen Bedingungen – ein Artikel von Anne Caspari

Entscheidungsprozesse sind weitgehend unverstanden

Gemessen an der Anzahl an Entscheidungen, die wir tagtäglich in unserem Privat- und Geschäftsleben treffen, ist es erstaunlich, wie viele Menschen gar nicht wissen, wie das geht: gute Entscheidungen treffen. 

Entscheidungsfindung gleicht für viele Menschen mehr einem Prozess des Ratens oder des Wettens auf ein Ergebnis, angefangen von dem, was sie in einem Restaurant essen, bis hin zur Auswahl des Jobs oder dem Investieren an der Börse. Viele informieren sich auch, stellen die richtigen Fragen, aber wenn es zur eigentlichen Entscheidung kommt, schummeln sie sich durch, entscheiden irgendwie und hoffen auf ein gutes Ergebnis. 

Werden Menschen nach dem Entscheidungsprozess befragt, listen auch hochrangige Führungskräfte eher eine Liste an Aktionen auf als einen nachvollziehbaren Prozess zu nennen. Auch erfinden Menschen oft eine Geschichte, nach der die Entscheidung im Nachhinein irgendwie Sinn ergibt. Kurios ist, dass diese Story stark vom Ergebnis der Entscheidung abhängt: Hat man Erfolg gehabt, wird der Entscheidungsprozess ganz anders erzählt als bei einem Misserfolg. Dieses Phänomen, eine Entscheidung im Nachhinein als stimmig zu erleben, nennen Kognitionswissenschaftler ‚retrospektive Kohärenz‘. 

Meistens wird angenommen, dass ein positives Ergebnis eines Entscheidungsprozesses automatisch bedeutet, dass ein guter Prozess genutzt wurde. Dies ist nicht unbedingt der Fall. Dass oft dem Ergebnis eher als dem Prozess Gewicht verliehen wird, ist in unserer Gesellschaft nicht ungewöhnlich. Wenn jedoch der Prozess selbst nicht solide ist, wird das Lernen aus den Fehlern schwierig, die Intuition wird nicht geschult, und den Faktoren Zufall und Glück wird größere Bedeutung eingeräumt als ihnen zusteht. 

Der beste Weg zu einer guten Entscheidung ist tatsächlich ein solider Entscheidungsprozess (Russo & Schoemaker: Winning Decisions): 

  • Ziel und ‚Framing‘: das allgemeine Ziel des Entscheidungsträgers, einschließlich der Art und Weise, wie er über das Wissen nachdenkt, auf das er seine Entscheidung stützt; 
  • Ein realistischer Ansatz zum Sammeln von Informationen; 
  • Entscheiden: Informationen organisieren und verschiedene Perspektiven abwägen; 
  • Ein Ansatz zur Kommunikation und Umsetzung der getroffenen Entscheidung; 
  • Lernen aus Erfahrung, einschließlich einer Möglichkeit, die Wirksamkeit einer Entscheidung zu messen, damit Anpassungen vorgenommen werden können 

Nun stellen sich dem Entscheidungsträger noch weitere Herausforderungen: Je nach Komplexitätsgrad oder Unsicherheitsfaktor sehen diese Schritte nicht nur anders aus, sondern unterliegen ganz anderen Gesetzmäßigkeiten.

Wir unterscheiden zwischen geordneten Domänen und komplexen Bereichen (Dave Snowden: The CYNEFIN Framework). Unter geordnete Bedingungen fallen alle, die vielleicht kompliziert, aber berechenbar sind, mit bekannten Ursache–Wirkungsbeziehungen, wie z.B. bei einer Autoreparatur, oder dem Bau eines Flugzeuges. Es gibt bei den allermeisten Entscheidungen Aspekte, die in die berechenbare Domäne gehören, und solche, die andere Herangehensweisen erfordern. Die meisten Entscheidungsforscher sprechen sich hier für eine gute Mischung von beiden aus. 

Als Entscheidungshilfen unter geordneten Bedingungen können u.a. folgende Hilfen herangezogen werden: 

  • Handbücher, Prozeduren, Handlungsanweisungen
  • Wahrscheinlichkeitsrechnung, Berechnungsmodelle und Algorithmen
  • Analyse und Expertenwissen, Logik
  • Formale Bewertungsmodelle, Szenarien-Planung

What if it’s complex?

Komplexe Bedingungen und ungewisse Verhältnisse herrschen z.B. überall da, wo es wir es mit natürlichen Bedingungen oder mit Menschen und deren Beziehungsdynamiken, statt mit Algorithmen zu tun haben. Es gibt so viele unbekannte Faktoren und deren Beziehung untereinander, dass wir nicht nach vorne planen oder Ergebnisse vorhersagen können. 

Als Faustregel gilt: Wenn es für den Weg nach vorne oder die anstehenden Entscheidungen mehrere Hypothesen gibt, die sich teilweise oder ganz zu widersprechen scheinen, sind andere Ansätze und Methoden gefragt als Berechnung oder Logik (Wenn-Dann-Verknüpfungen). Es ist erstaunlich, wie oft fälschlicherweise versucht wird, mit rein mechanistischen Methoden komplexe Zusammenhänge handhabbar und planbar zu machen, ein Ansatz, der immer unbeabsichtigte Folgen nach sich zieht. 

Probe-Sense-Respond 

Wenn sich bezüglich einer Entscheidung oder einer Herausforderung die Hypothesen und Ratschläge bezüglich des weiteren Vorgehens widersprechen, empfiehlt es sich, Ideen erst zu testen. Als generelle Entscheidungshilfe für die komplexe Domäne nennt Dave Snowden den Ansatz: „probe – sense – respond“: testen – wahrnehmen – reagieren/entscheiden. 

Im Idealfall können mehrere kleine Testprojekte parallel und mit sich widersprechenden Grundannahmen durchgeführt werden, deren Ergebnis im schlechtesten Fall eine Lernerfahrung und im besten Fall einen dynamischen Weg nach vorne aufzeigt: ‚Safe-to-Fail Experiments‘. Auf diese Weise können verschiedene Vermutungen getestet werden, ohne den Entscheidungsprozess auf blinde Flecke oder zu enge mentale Modelle aufzubauen – möglichst bevor viel Geld, Zeit und Mühe in die Weiterentwicklung und die Skalierung neuer Ansätze gesteckt wird. Damit können Denkfehler wie z.B. der Hawthorne Effekt (nicht der neue Ansatz führte zu Produktivitätssteigerung, sondern die bloße Tatsache, dass er neu war), der Confirmation bias (man sieht nur Beweise, die bestätigen, was man schon annimmt, aber nicht die, die das Gegenteil bestätigen), oder einen falschen Bezugsrahmen (Frame) zu wählen (die Encyclopedia Britannica ging fast bankrott, weil sie den Bezugsrahmen „Bücher verkaufen“ trotz aufkommender neuer CD-ROM Technik beibehielten. Erst sehr spät wechselten sie zu dem Reframe „Information verkaufen“). Dies gilt insbesondere, wenn Entscheidungen die Themen Skalierung, Wachstum oder Innovation betreffen. 

Intuition und Mustererkennung 

Intuition ist unabdingbar für die Entscheidungsfindung unter komplexen Bedingungen. Kurioserweise haben Entscheidungsforscher herausgefunden, dass unser Bauchgefühl zwar manchmal brillante Erfolge liefert, aber in der Regel eher erschreckend mittelmäßige Ergebnisse erzielt. Hier liegt der entscheidende Faktor wohl in der Schulung der Intuition. 

Als Forscher die Entscheidungsprozesse erfolgreicher Feuerwehrleute untersuchten, waren sie zunächst verblüfft, herauszufinden, dass diese weder festgelegten Prozeduren folgten noch bewusste Entscheidungen zu treffen schienen. Genaueres Nachfragen ergab, dass Einsatzleiter nach jahrelanger Erfahrung „einfach wussten“, was zu tun war. Sie konnten intuitiv auch kleinste Muster von Bränden erkennen, entsprechend entscheiden und handeln (Recognition Based Decision). 

Der deutsche Entscheidungsforscher Gerd Gigerenzer erläutert, dass sich erfahrene Experten bei hoher Ungewissheit besser auf ihre (geschulte) Intuition oder einfache Heuristiken verlassen als auf komplizierte Algorithmen und Berechnungsmodelle. Anfänger sollten stattdessen zuerst ihre Intuition trainieren, bevor sie sich darauf verlassen. 

Heuristiken verwenden

Heuristiken sind mentale Strategien oder einfache Faustregeln, die uns helfen, uns mit begrenztem Wissen und Zeit auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Rest zu ignorieren, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Sie sind unverzichtbar im Angesicht von Komplexität und Ungewissheit. Dabei sollten die Regeln umso einfacher sein, je komplexer das Terrain ist, in dem wir Entscheidungen treffen wollen. Harry Markowitz erhielt 1990 einen Nobelpreis für ein super komplexes Berechnungsmodell für Investmentstrategien. Befragt erklärte er, dass er für seine eigenen Investitionen lieber eine einfache Faustregel verwendet: verteile deine Assets gleichmäßig auf viele Möglichkeiten (1/N). 

Lernen, mit Komplexität gut umzugehen 

Zum Schluss gilt es, die eigenen Fähigkeiten auszubauen, mit Entscheidungen unter VUKA-Bedingungen (volatil, unsicher, komplex und unklar) effektiv zu arbeiten. Nach Theo Dawson ist es am wahrscheinlichsten, dass gute Entscheidungen getroffen werden, wenn die Komplexität des Denkens einer Person gut zur Komplexität der Herausforderungen am Arbeitsplatz passt. Die effektivsten und agilsten Entscheidungsträger stützen sich auf zusätzliche Fähigkeiten, einschließlich der Fähigkeit, klar zu denken und zu kommunizieren, und immer komplexere Zusammenhänge begreifen zu lernen. Dies beinhaltet die Unterscheidungsfähigkeit zwischen komplizierten Bereichen und komplexen Domänen und deren unterschiedliche Erfordernisse für die Entscheidungsfindung. Die Anerkennung der unumgänglichen Komplexität unseres Entscheidungsalltags erfordert nicht zuletzt die damit einhergehende Abkehr von der Versuchung, alles sicher, berechenbar und planbar machen zu wollen. 

Quellen:

Dawson, Theo: LDMA – Lectical Decision Making Assessment www.lectica.org 

Gerd Gigerenzer (2014): „Risikobewusst: Wie man gute Entscheidungen trifft“. Penguin Books; 

Gerd Gigerenzer (2008): „Bauchgefühle: Die Intelligenz des Unbewussten“, Penguin Books 

Klein, Gary: Streetlights and Shadows – Searching for the Keys to Adaptive Decision Making; MIT Press, Camebridge, Massachusetts 

Russo, J. E. & Schoemaker, P.J.H. (2002): Entscheidungen gewinnen: Das erste Mal richtig machen. 

Snowden, Dave: The Cynefin Framework, www.cognitive-edge.com 

 

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